Seeing India through Mumbai

Februar 2025

Vier Tage in Mumbai – ein subjektiver Reisebericht.

Mein Flug startete in einer eisig kalten Novembernacht in München. Einige Stunden später näherten wir uns über das arabische Meer kommend Mumbai. Im wolkenlosen Himmel schlich sich langsam ein graugelber Schimmer ein. In der Schräglage eines Kurvenfluges tauchten plötzlich die Berge hinter Mumbai auf. Mit ihrer dschungelhaften Vegetation zog mich ihr Anblick in seinen Bann. Gleich darauf wurde dieser Bann wieder von der Landung beendet. Der BOM ist ein großer, sauberer Metropolflughafen. Die darauf folgende 40- minütige Taxifahrt in die Stadt ähnelte einem Mix aus Mario Kart und Rally Rennen - eine Kombination die ich in keinem Straßenverkehr erwartet hätte. Ziel der Fahrt war das Viertel Fort im Süden der Stadt, welches große Teile der Altstadt beinhaltet.
Mumbai hat auf der Landkarte die Form einer Halbinsel, welche auf Landkarten ehrlicherweise etwas klein erscheint. Erst eine einstündige Fahrt vom Norden in den südlichsten Teil der Insel gibt ein realistisches Gefühl für ihr Ausmaß. Ursprünglich bestand dieses Gebiet aus sieben einzelnen Inseln. Die trennenden Sümpfe wurden von den Briten im 18. Jh. trockengelegt. Eine dieser Inseln trug den Namen Bombay, welcher wohl von dem portugiesischen "Bom Bahia" für "gute Insel" stammt. Die ehemals portugiesische Kolonie wurde als Mitgift bei einer Hochzeit zwischen den Königshäusern an Großbritannien übergeben. Der Stadtname Bombay wurde erst viel später von der indischen Regierung zu Mumbai geändert - den Namen einer Göttin von lokalen Fischern huldigend, um damit die eigene indische Kultur stärker zu betonen.
Die Bandra Meeresbrücke verbindet den Norden und Süden Mumbais auf der westlichen Seite der Insel. Von ihr aus ergab sich über die große Wasserfläche ein guter Überblick der unzähligen Hochhäuser der Stadt. Gleichmäßig wie in einer Löwenzahnwiese scheinen diese über ein riesiges Gebiet verteilt aus dem Boden zu sprießen. Bei dieser Aussicht wurde die Zahl der 29 Millionen Einwohner plötzlich greifbar. Einige Kurven und Asphaltrampen später, erreichte ich die vermeintliche Adresse meines Hostels. Die ganze Fahrt über klebte mein Blick an der Welt, die am Fenster vorbeizog. Ich mache es mir sehr einfach, wenn ich schlicht behaupte: es ist alles anders - außer das Menschen in Häusern wohnen und Autos auf Straßen fahren. Bei Autobahnauffahrten sieht man nicht selten Menschen, welche locker am Straßenrand spazieren. Hochhäuser wechseln sich mit Slums ab.
Mein Hostel befand sich zwei Straßenecken neben dem Victoria Terminus, einem prächtigen Bahnhof aus der Kolonialzeit. Meine Bewunderung dafür wich aber direkt der Verwunderung über das Problem, den Fahrer nicht bezahlen zu können. Ganz Indien funktioniert auf Google-Pay. Schlechte Voraussetzungen für Apple-Pay Nutzer. Und am Flughafen war ich naiv genug zu glauben, es passt schon wenn ich mir günstigere ATM Automaten in der Stadt suche. Die spontan auffindbaren ATMs verweigerten mir die Kooperation. Letztlich bezahlte ich ihn mit US Dollar Scheinen, wovon ich ein paar als Notgroschen mit mir trug.
Nun stand ich voll beladen auf einem Gehweg in Indien. Mein Adrenalin und Vertrauen war groß genug, um Google Maps nun für 20 Minuten selbstsicher ums Karree zu folgen. Schwitzend im Schatten stehend, hinterfragte ich mein Vertrauen langsam. Ein hilfsbereiter Inder mit Office Outfit zeigte mir mit einer anderen Navigationsapp mein Hostel in einer fünf Minuten entfernten Straße. Durch seine Führung zu der Adresse, gab er mir beiläufig einen wertvollen Grundkurs, wie man die Straßen überquert. Das Hostel war ebenfalls ein stilvoller Kolonialbau mit viel Holz, hohen Decken und mattfarbenen Fliesen.
Das Zimmer teilte ich mit zwei anderen Männern. Einer von ihnen ein deutscher Rentner. Dieser war sichtlich davon amüsiert, mir als naiven Ankömmling die Grundlagen hier zu erklären. Ich war amüsiert davon, in Indien zuerst einen Deutschen zu treffen. Ehrlicherweise machte er mir den sich anbahnenden Kulturschock sehr verdaulich. In meiner Muttersprache mit jemanden zu reden, der sich sichtlich auskennt, hatte eine auffangende Wirkung. An meinem ersten Abend aß ich zwei scharfe Burger bei KFC. Den Rest des Tages verbrachte ich im Hostel in langen Gesprächen mit Uwe, dem Rentner.
Wir saßen uns gegenüber an den beiden Wänden der verwinkelten Behelfsküche. Die Decke bestand aus hoch gelegenem, dunkel gestrichenem Gebälk. Uwe hatte Freude mir seine Geschichten und Probleme mitzuteilen. Plötzlich huschte etwas Graues weit über seinem Kopf auf das Regal und verschwand seitlich zwischen den Balken. Der Schock über die Ratte in der Küche stand mir wohl deutlich ins Gesicht geschrieben. Ohne Uwes lässige Reaktion hätte ich die Nerven verloren. Er fragte mich locker mit einem süffisanten Lächeln: "Was hast du hier erwartet?" Das half mir meinen Ekel als eine westliche Überreaktion abzutun.
Noch später am Abend saßen wir zu dritt auf dem Balkon unseres Zimmers. Dass wir uns im hohen fünften Stock befanden, hinderte den Baum im Vorgarten nicht, seine Krone direkt neben uns auszubreiten. Vor uns lag die Sicht über einen kleinen und dicht bewachsenen Park. Praktisch ergab sich eine Aussicht wie vom Plaza Hotel über den Central Park in New York, nur in klein. Hier saßen wir nun, bis ich mir ertraute, eine Zigarette von Uwe zu schnurren. Schon im nächsten Moment gesellte sich ein großer Flughund zu uns. Er ließ sich kopfüber in den Ästen neben uns nieder. Er hatte die Form eines normalen, aber abgemagerten Hundes, mit einer Menge pech schwarzer Haut. Mit der Grazie einer Katze pflegte er dort hängend sein Fell. Diese Tiere benutzen ihre sichtlich gefährlichen Gebisse lediglich, um sich von Obst zu ernähren. Aus meiner Sicht eine zutiefst positive evolutionäre Entwicklung. Ihr Äußeres verkörpert einen tier- gewordenen Vampir.
Am nächsten Morgen lag ich für einige Zeit wach im Bett, um die vom Vortrag provozierten Träume zu verdauen. Die Lokale welche ich am Vorabend sah, lösten in mir allesamt den Beschluss aus, viel selbst zu kochen. Schließlich suchte ich dafür einen 30 Minuten entfernten Supermarkt bei der Churchgate Station zu Fuß auf. Dabei lief ich unter vielen alten tropischen Bäumen entlang. Ihre ausgiebigen Wurzelansätze und mächtigen tiefen Kronen geben den Straßen in Mumbai den Flair eines Urwaldes. Ich fühlte mich wie Mogli, der durch den Dschungel streift. Alle Gebäude hier hatten einen ehrfürchtigen viktorianischen Charakter, wirkten aber in ihrem Zustand heruntergekommen.
Die Menschen welche ich bis dahin traf, sahen mir ohne erkennbare Reaktion in die Augen. Nur eine Dame bei den Messwaagen im Supermarkt lächelte, als sie mir in sehr gutem Englisch erklärte, wo ich mich richtig anstellen kann. Englisch stellte sich als starker Bildungsindikator heraus, und als potentielles Zeichen dafür, dass der Kontakt mit der westlichen Welt gewohnt ist - man versteht sich, ergo, man lächelt. Im selben Zuge wurde mir später klar, dass Inder im Schnitt drei der lokalen Sprachen beherrschen. Bei den Gebildeten kommt noch Englisch dazu. Damit erinnert mich Indien entfernt an die Sprachkultur der Schweiz, in der es ähnlich gewöhnlich ist, drei Sprachen zu sprechen.
Am Nachmittag lief ich über andere Straßen Richtung Süden zum Gate of India. Ein riesiges, triumphales Bogenmonument. Als ich dort ankam, war es bereits dunkel. Zwei große Projektoren strahlten Animationen an die große Oberfläche des Bogens. Die gesamte Fläche war mit der Audienz gefüllt. Den Hindi Erklärungen aus den Lautsprechern konnte ich leider nicht folgen. Die Animationen zeigten aber unverkennlich stolz, dass es um die Gründungsgeschichte von Indien geht, Kriege unter den Königen und letztlich die Unabhängigkeit von Großbritannien. Eine Form positiver kultureller Selbstwahrnehmung die ich aus Deutschland nicht kenne.
Direkt neben dem Gate of India befindet sich das anmutige Taj Mahal Palace Hotel. Ich lief voller Vertrauen durch die Sicherheitskontrolle in das Hotel - es funktionierte. Der Trubel auf den Straßen verschwand in drei Schritten durch die Tür und wich einem ruhigen Geschehen. Hier erlebte ich erstmals die volle Pracht indischer Grandeur. Die Kombination aus Marmor und dezenten Farben strahlte eine Eleganz aus, die mich sofort in eine andere Welt versetzte. In der Lounge spielte eine Pianistin sanfte Melodien, die perfekt zur Atmosphäre passten.
Unweit von dem Hotel begab ich mich in eine Rooftop Bar mit einem Blick über die Bucht. Erst beim Blick auf die rauchenden Gäste fiel mir auf, dass ich in den vollen Marktgassen keiner einzigen Zigarette begegnet war. Indien scheint eine sehr wirksame Tabakkontrollpolitik implementiert zu haben.
Ein eindrückliches Erlebnis war der Weg zum Crawford Market. Am Ende bog ich etwas zu früh ab und fand mich auf einem Viehmarkt wieder. Es wurden hauptsächlich Hühner geboten. Diese siechten in scheinbar magerem Zustand in großen Gitterkästen vor sich hin. Der Gestank biss mir so stark in die Nase, dass ich für eine kurze Zeit nicht mehr atmen konnte. An den Seiten dieses Weges standen immer wieder leise redende Händler ruhig in der Dunkelheit. Der Weg war matschig. Orte wie dieser müssen die Schwarzmärkte in StarWars auf abgelegenen Planeten inspiriert haben. Als ich den eigentlichen Markt erreichte, spürte ich Erleichterung – aber die Bilder dieser Gasse werden mir noch lange im Kopf bleiben.
Die Interaktionen mit dem Personal im Hostel zeigten mir eine weitere Facette der indischen Kultur: Kommunikation hat das Hauptziel der Harmonie, statt Klarheit. Harmonie bedeutet, dass man Konflikte möglichst vermeidet. Da ein 'Nein' einen Konflikt auslösen könnte, sagt man lieber 'Ja' – selbst wenn es nicht der Wahrheit entspricht. Die Harmonie des Gespräches bleibt jedoch gewahrt. Auf mich haben diese Gespräche wie seltsam choreographierte Tänze gewirkt. Die Ursache dafür ist wohl meine Erziehung in deutscher direkter Kommunikationskultur.
An meinem letzten Tag besuchte ich das Prince of Wales Museeum. Mittlerweile trägt es den langen Namen von Shivaji, dem Gründer des Maratha Königreiches. Das Gebäude ist ein weiteres Juwel der hinterlassenen britischen Architektur. Es ist mitten in der Stadt von einem Palmengarten umgeben. Hier traf ich erstmals nach vier Tagen andere Europäer außerhalb des Hostels. Die Ausstellung bot faszinierende Einblicke in Indiens Geschichte, religiöse Einflüsse und kulturelles Erbe. Diese Erfahrung inspirierte mich, in jeder Stadt meiner Asienreise Geschichtsmuseen zu besuchen.
In einem Nebenkorridor des Museums stieß ich auf eine europäische Kunstsammlung, welche ich wirklich genoss. Hier hatten auffällig viele Bilder die Beischrift: "Sir Ratan Tata Collection." Der allgegenwärtige Name war mir bereits aus dem Supermarkt und von Autos auf der Straße bekannt. Die Recherche bestätigte den Eindruck eines Industriellen. Seine Vorfahren wirkten seit über 100 Jahren und spielten eine entscheidende Rolle in der industriellen Entwicklung Indiens - ähnlich dem Einfluss Alfred Eschers in der Schweiz oder Friedrich Harkorts im Ruhrgebiet.
Am letzten Abend in Mumbai lauschte ich dem wilden Hupen und spürte, dass ich genug von der Intensität Indiens hatte. Lustigerweise schlug mir Spotify das Lied "Lost in Mumbai" vor. Statt wie geplant nach Bangalore zu reisen, entschied ich mich spontan für Hongkong. Drei Stunden später saß ich im Flieger – das Zugticket verfiel.